Nun habe ich seit langer Zeit wieder die Gelegenheit zu kalligraphieren. Hanako hatte mir vor einigen Monaten das Schriftzeichen für Freiheit gezeigt. Ihr seht es auf diesem Bild. Auf Japanisch heißt es „Jiju“, auf Chinesisch „Ziyou“.
Etwa ab dem 5. Jahrhundert kamen die chinesischen Schriftzeichen, die rund 3000 Jahre alt sind, über Korea nach Japan und wurden dort als „Kanji“ (Han-Zeichen) bezeichnet.
Kanji sind sogenannte Logogramme, die mittels Bild eine Idee oder eine Gegebenheit darstellen. Neben der Regelschrift (die „typischen“ chinesischen Schriftbilder) gibt es verschiedene Schreibstile, hier habe ich in der Grasschrift kalligraphiert.
Der obere Teil des Zeichens bedeutet „Zi – Selbst“, auch im Sinne von: „von sich selbst aus; auf natürliche Weise“.
Der untere Teil bedeutet „You – Grund, Ursache“. Dies im übertragenen Sinne aber auch ganz handfest gemeint, als der Grund auf dem wir stehen, was man in der Regelschrift noch besser erkennen kann, da es dem Zeichen für „Feld, Acker“ sehr ähnelt.
Für „Freiheit“ braucht es also ein Selbst, dass einen stabilen Grund hat.
Die Daoistischen Anschauung vom „Selbst“ entspricht dem Natürlichem, dem was „von selbst so ist“. Alles Gekünstelte, Aufgesetzte, Hinzugefügte stellt demnach eine Beschädigung des Selbst dar. Da alle unsere Gedanken auf Sprache beruhen, Sprache aber nicht ursprünglich zur Natur gehört, wird in der Daoistischen Meditation Wert darauf gelegt, immer wieder in Zustände der „Sprachlosigkeit“ einzutreten, d.h. frei von Gedanken zu sein. Wenn sie auftauchen, lassen wir sie vorüber ziehen wie Wolken an einem Berg. Dies kann uns heiter und frei machen (z.B. ohne Sorgen und Kummer).
Dadurch dass wir nicht im diskursiven Denken bleiben, erfahren wir in den inneren daoistischen Übungen eine Erweiterung unseres Daseins, hin auf eine Verbindung mit Himmel und Erde. So können wir uns von der Illusion eines autarken, abgeschlossenem Selbst lösen.
Im Zen spricht man vom „Selbst, das ein Nicht-Selbst ist“ – ein Satz den unser logischer Verstand sofort zurückweist (1 kann nicht Nicht-1 sein)und es braucht längere Übungspraxis um zu erahnen, was damit gemeint sein könnte.
Aber bereits zu Beginn der Zen-Praxis erfahren wir, dass unser feststehendes Bild von uns Selbst Risse bekommt und wir erkennen, wieviel davon aus Konzepten, Illusionen, Meinungen und Vor-Urteilen besteht, die sich auch noch häufig ändern. Wir lernen zu fragen: „Stimmt das denn überhaupt, was ich denke zu sein?“ Alle Zuschreibungen wie „Ich bin…(gerecht, liebevoll, dumm, kleinmütig, usw.)“ können in Zweifel gezogen werden. Auch so werden wir allmählich freier und durchschauen uns besser.
In der Chinesischen Sprache gibt es keine Grammatik, die zwischen verschiedenen Wortarten unterscheidet, deshalb bedeutet „Ziyou“ nicht nur Freiheit, sondern auch gleichzeitig: frei, ungebunden, ungezwungen.
In Übungsanleitungen zum Qigong (z.B. in der Schüttelübung) werden diese Adjektive gerne benutzt, um die Qualität der Bewegung zu charakterisieren, die nicht zu gemacht, zu perfekt oder zu eng sein sollte, sondern den Charakter des frei Fließenden haben kann.
Wenn wir den zweiten Teil des Schriftzeichens „You – Grund, Ursache“ betrachten, wird klar, dass unser Selbst einen stabilen Grund braucht, um sich frei und ungezwungen zu verwirklichen Nicht nur in der verwurzelten Haltung im Qigong sondern auch der Stabilität einer im Becken verankerten Sitzhaltung auf dem Kissen drückt sich das aus.
Wenn wir so gegründet sind, kommen wir vielleicht in Kontakt mit dem Grund unseres Daseins……
Ich werde in einer Woche frei von meinem Spezialschuh sein und berichte beim nächsten Mal, wie es bei mir weitergeht. Für heute möchte ich mit einem passenden Zitat vom Begründer des tibetischen Buddhismus aus dem 8.Jahrhundert enden:
Man irrt nicht durch Wahrnehmen,
man irrt durch Anhaften und Klammern.
Wenn der Geist aber um sein Anhaften
und Klammern weiß, ist er frei.
(Padmasambhava)