In Qigong Übungen haben wir es immer wieder mit dem Ort „Mingmen“ zu tun. Dieser meist mit „Tor des Lebens“ übersetzte Akupunkturpunkt Dumai 4 liegt unterhalb des 2. Lendenwirbels, also etwa auf Höhe des Bauchnabels. Er kräftigt und wärmt den Funktionskreis Niere, der die Essenz (Jing) bewahrt und die Knochen, die Ohren und die allgemeine Vitalität und die Willenskraft des Menschen beeinflusst. In der TCM wird er u.a. eingesetzt bei Schmerzen im unteren Rücken, Erschöpfung, Unterleibsbeschwerden.
In verschiedenen Übungen klopfen wir links und rechts neben diesen Ort auf die sogenannten Shen Shu (Zustimmungspunkte der Nieren), wir atmen in das Lebenstor, reiben es, bewegen es, indem wir „das Lebensrad drehen“ oder lassen beim „Kleinen Energiekreislauf“ Energie hindurch strömen, usw.
Eine weitere Wirkung, die dem Punkt zugeschrieben wird, nämlich das Nähren des Ursprungs-Qi, bringt uns auf die Spur eines noch tiefer liegenden Aspektes dieses Ortes, der durch die Reduzierung der TCM auf medizinische Indikation unter Vernachlässigung der spirituellen Wurzeln, wenig Beachtung erfährt. Das Ursprungs-Qi steht in Beziehung zum sogenannten Vor-Himmels-Qi (vorgeburtliches Qi) und so zur angeborenen Konstitution und grundlegenden Vitalität eines Menschen.
Tieferliegende Bedeutungsebenen enthüllen sich oft über die Betrachtung der chinesischen Schriftzeichen. Das Zeichen für „Ming“ enthält einen Mund und ein Zepter, kann also auch als „Befehl, Anweisung“ gedeutet werden. Im Langenscheidts Taschenwörterbuch Chinesisch finden sich unter „Ming“ folgende Begriffe: „Namen oder Titel zuweisen, Leben, Schicksal, Befehl“
„Men“ bedeutet Tor.
Sinnbildlich gesprochen könnte man „Mingmen“ also verstehen als das Tor, in dem wir uns für den uns zugewiesenen Namen bzw. für unser Schicksal öffnen können.
Josef Viktor Müller untersucht diesen Aspekt in seinem Buch „Den Geist verwurzeln“ und schreibt nach einer Betrachtung des Himmlischen Mandates der Kaiser:
„Das Gleiche gilt für den einzelnen Menschen. Befindet er sich in Übereinstimmung mit seinem himmlischen Auftrag, der als Shen (Geist) tief in das Jing, seine Essenz, eingeprägt ist, wird er seine Bestimmung erfüllen. Benutzt man jedoch seine Essenzen nur, um egoistische Zwecke zu verwirklichen, entzieht der Himmel sein Mandat.“
Da Mingmen auch als hinterer Aspekt des Unteren Dantian verstanden werden kann, das durch seine Wandlungskraft als Alchemisten-Ofen bezeichnet wird, schreibt er weiter:
„Dieser Ofen entwickelt den Keim unserer ursprünglichen Natur zur vollen Blüte: das was wir sein könnten, statt dem, was wir sind. Alle im nachhimmlischen oder nachgeburtlichen Zustand erworbenen Konditionen werden gleichsam dadurch weggeschmolzen, ohne dass die so erworbene Erfahrung verloren geht. Man kommt wieder in Kontakt zum kindlichen reinen Zustands des Vorhimmels, ohne zum Kind zu regredieren.“
Aber wer oder was weist uns unser Schicksal, unsere Bestimmung zu?
Oft meinen wir hier etwas Besonderes, vielleicht Außergewöhnliches, auf jeden Fall etwas ganz Eigenes und Individuelles. Viele Kurse und Seminare beschäftigen sich damit, uns unsere eigene Bestimmung entdecken zu lassen. Es ist durchaus etwas Schönes, die in uns angelegten Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen und blockierende Denkmuster zu erkennen. Aber leicht bekommt diese Frage etwas Egozentrisches, sich selbst Erhöhendes, bzw. ein von Allmachtgefühlen getragenes Denken, in dem wir glauben, alles selber erschaffen zu können, wenn wir nur „das Richtige“ denken oder wünschen.
Aus daoistischer Sicht hat unser Leben zwei Aspekte: Es ist in seiner besonderen Erscheinung einmalig und individuell. Aber es ist auch ganz gewöhnlich, einfach so wie es ist, etwas berührend, dass „Urgrund“ genannt werden kann und an dem alle Wesen den gleichen Anteil haben.
Das Ineinander-Fallen dieser beiden Aspekte wird bei Laotse „Das Eine“ genannt, letztlich ein Synonym für „DAO“.
Der wenig bekannte 5. Vers aus dem Daodejing von Laotse hört sich für unsere Ohren zunächst befremdlich an:
Himmel und Erde sind nicht gütig.
Ihnen sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.
Der Berufene ist nicht gütig.
Ihm sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.
Der Zwischenraum zwischen Himmel und Erde
Ist wie eine Flöte,
leer und fällt doch nicht zusammen;
bewegt kommt immer mehr daraus hervor.
Aber viele Worte erschöpfen sich daran.
Besser ist es, das Innere zu bewahren.
(Übersetzung: Richard Wilhelm)
Mit Laotse beginnt die chinesische Philosophie ganz radikal den Anthropomorphismus in der Religion zu beseitigen. Wenn in den Jahrhunderten zuvor der „Himmelskaiser“ noch als persönlicher Gott gedacht wurde, mit menschlichen Gefühlen wie Zorn aber auch Liebe und Güte (wenn die Opferungen und Rituale eingehalten wurden), so wandelte sich das Bild in den eher unpersönlichen „Himmel“ als Wirkmacht, der sich letztlich aber noch nach dem Dao zu richten hat, das sich nach dem „Einfach-So-Sein“ richtet. (Vers 25).
Güte, eines der zentralen Themen des Konfuzianismus, wird von den Daoisten als unvollkommenes Konzept abgelehnt, da es oft auf persönlichen Vorlieben und Neigungen beruht.
Stroherne Opferhunde wurden vor einem Begräbnis sorgfältig hergestellt und prächtig verziert. Doch hatten sie ihre Lebensdauer vollendet, wurden sie zertreten und weggefegt. Richard Wilhelm schreibt dazu: „Das Charakteristische an dem Bild der strohernen Opferhunde ist, dass alle Wesen entsprechend dem Zweck ihrer Gattung aufs Beste ausgestattet sind, jedoch vom Ansehen der Person nicht die Rede sein kann.“
Das, was den Wesen wirklich nützt finden wir sinnbildlich in dem leeren Raum zwischen Himmel und Erde, aus dem, obwohl leer, durch ständige Bewegung die unendliche Fülle, die sich in den 10.000 Dingen manifestiert, hervorquillt.
In den letzten beiden Zeilen des Verses klingt an, dass durch begriffliches Denken das Geheimnis des In-Eins-Fallens von Leere und Fülle, Yin und Yang, von Absolutem und Relativen, von besonderem Individuellen und verbindendem Allgemeinen nicht zu ergründen ist. Nur durch zur Ruhe kommen, durch Stille, können wir es intuitiv als in uns angelegt wahrnehmen.
Wenn wir der Übersetzung von Wolfgang Kopp folgen, erkennen wir eine Verbindung zum späteren Chan-Buddhismus (Zen) deutlicher:
Himmel und Erde kennen keine Vorliebe.
Ihnen sind die abertausend Wesen
Wie Opferhunde aus Stroh.
Der Weise kennt keine Vorliebe.
Ihm sind die Menschen
Wie Opferhunde aus Stroh.
Der Raum zwischen Himmel und Erde,
gleicht er nicht einem Blasebalg?
Leer, doch unerschöpflich;
Je mehr bewegt, kommt immer mehr hervor.
Viele Worte zerrinnen schnell,
am besten, man bewahrt es innen.
In einem der ältesten Zen-Texte aus dem 7. Jahrhundert, der „Inschrift vom Vertrauen in den Geist“, schreibt Seng Can die berühmten Zeilen:
Der höchste WEG ist nicht schwer
Für jene, die keine Vorlieben haben.
In einer anderen Übersetzung lauten die Zeilen:
Das Dao zu erreichen ist nicht schwer,
Wenn wir nur aufhören zu wählen.
Die Skepsis gegenüber Denkvorgängen wie wählen, bewerten, vergleichen verbindet Daoismus und Chan-Buddhismus. Warum sollten wir das Besondere dem Alltäglichen, das Heilige dem Profanen vorziehen, wenn sie doch beide Ausdruck des „Einen“ sind!
Im Zen findet sich der Schlüsselsatz:
Der alltägliche Geist ist der WEG (Dao)
Im Chinesischen gibt es das Sprichwort:
Das Schicksal liegt in deinen Händen und nicht im Himmel.
Damit wird nicht einer Allmachtfantasie das Wort geredet, sondern einem Vertrauen in das, was uns gegeben ist und in die Fähigkeit, es entsprechend unserem So-Sein zu gestalten.
Ähnlich beschreibt es der Religionsphilosoph Martin Buber, wenn er Freiheit und Schicksal als gegenseitige Ergänzung auffasst und schreibt: „Dem Schicksal begegnet nur, wer die Freiheit verwirklicht.“ (aus „Ich und Du“)
Nach diesem längeren Exkurs komme ich noch einmal auf den oben beschriebenen Akupunkturpunkt Mingmen (Tor des Lebens, des Schicksals, der Bestimmung) zurück.
Das Einmalige am Konzept der altchinesischen Sicht auf den Menschen ist, dass sie in unnachahmlicher Weise Orte im Körper mit Fragen des Geistes zusammenbringt, so dass alle psychischen und spirituellen Phänomene zumindest symbolisch in konkreten körperlichen Räumen (den Akupunkturpunkten und Energiefeldern) abgelegt und geheilt werden können.
Vielleicht können wir in Phasen von Kraftlosigkeit und Erschöpfung, wenn wir uns dem Schicksal willenlos ausgeliefert, uns gebeutelt fühlen oder auch im Gegenteil, wenn wir mit aller Macht versuchen das Schicksal zu bezwingen und uns hart und steif machen, an dieses wunderbare Tor denken.
Wenn wir uns hier im unteren Rücken entspannen, lächelnd in Mingmen hinein atmen können, kann es uns helfen, das anzunehmen, was gerade ist (ohne wählerisch im oben genannten Sinn zu sein!). Auch wenn es ganz Alltägliches ist, oder Leid, Schmerz und Kummer. Hier an diesem Ort müssen wir das nicht weg machen sondern betrachten es als zum Leben dazugehörig.
Und gerade aus diesem Lassen-Können entsteht genau hier neue Vitalität die uns die Kraft gibt, das, was nun gerade da ist, zu wandeln und frei zu gestalten. Dies wird auch die schöpferische Kraft des Dao genannt.
So öffnen wir nicht nur das „Tor des Lebens“ sondern uns selbst für das Leben in all seinen Facetten und Wandlungen. Dieser Prozess braucht aber vor allem eines: Stille!
Bevor ich nun unten stehende schöne Geschichte aus der chassidischen Tradition mit euch teilen möchte,
wünsche ich allen ein glückliches Neues Jahr, in dem das Einzigartige in uns leuchten kann ohne das uns alle Verbindende zu überstrahlen!
„Rabbi Sussja von Anipoli pflegte auf seinen Wanderungen von Ort zu Ort den Menschen zu sagen: „Ich fürchte mich nicht davor, keine Antwort zu finden, wenn ich nach meinem Tod vom höchsten Richter gefragt werde: Sussja, warum warst Du Deinem Volk nicht so ein großer Führer wie Mose oder so ein feuriger Prophet wie Elija oder so ein berühmter Schriftgelehrter wie Rabbi Akiba? – Aber ich fürchte, dass meine Worte verstummen, wenn ich gefragt werde: Sussja, warum bist Du nicht Sussja geworden? Warum bist du nicht der geworden, der nur Sussja werden konnte?“ Warum bist Du mit Deinen Anlagen und mit meinen Gaben Dir so fremd, so unähnlich geworden?“
Auf Anfrage kann der Text als pdf zugesandt werden.