Für das neue Jahr wünschen sich wieder viele Menschen mehr Entspannung. Doch was ist damit eigentlich gemeint, bzw. was könnte in einem tieferen, uns Kraft gebenden Sinne, damit gemeint sein?
Im herkömmlichen Sinn wird mit Entspannung ein vor allem passiver Vorgang des Erschlaffens, sich fallen lassen, verbunden, indem alle Aktivität zu einem Ende gekommen ist. Dies ist sicher auch für den Augenblick befreiend, generiert aber selten wirklich neue Energie.
Wenn wir uns das Chinesische Wort „Fangsong“, das mit Entspannung übersetzt wird, in seinen Bestandteilen anschauen, wird klar, dass es in eine tiefere Dimension führt, in der Aktivität und Passivität sich zu etwas Neuem verbinden.
Das erste Wortteil „Fang“ hat das Bedeutungsfeld von „loslassen, beiseitelassen, freilassen“. Beiseite gelassen wird unnötige Muskelspannung, aber genauso sollten wir uns freilassen von geistiger und psychischer Anspannung. Unsere Gewohnheitsmuster, die auch Haltungs- und Denkmuster sind, müssen wir ebenso beiseitelassen. Für gewöhnlich betrachten wir uns als getrennt, als isolierte Einheit. Wenn wir den Kontakt zu Himmel und Erde, zu unserer Mitwelt zu-lassen, und uns von herkömmlichen Denkmustern zumindest etwas lösen, können wir uns von der Erde tragen lassen, zum Himmel wachsen und uns öffnen für die uns umgebende Energie.
Dieses „Lassen“ müssen wir einerseits zu-lassen, also etwas Aktives beisteuern, aber damit es gelingt, ist auch ein geschehen-lassen notwendig, dass sich passiv ereignet.
Rolf Elberfeld („Philosophieren in einer Globalisierten Welt“) weist auf das grammatikalische Problem hin, das in den westlichen Sprachen Verben entweder im aktiven oder im passiven Modus stehen können. Aber das oben beschriebene „Lassen“ steht genau dazwischen und wird als Verbform „Medium“ oder „Mediopassiv“ genannt. Sprachwissenschaftler gehen davon aus, dass es in den indogermanischen Sprachen dem reinen Passiv, das sich durchgesetzt hat, zeitlich vorausging. Im Sanskrit finden wir diese Form immer noch.
Das Wachsen der Pflanzen verdeutlicht dieses „Dazwischen“: es ist einerseits aktiv, die Zellen der Pflanzen organisieren sich auf eine bestimmte Weise, aber andererseits geschieht dieses Wachsen in völliger Passivität und in Abhängigkeit von vielen weiteren Faktoren, wie Licht, Sonne, Wärme, Wasser, usw. – die Rose wird zur Rose, zu dem was sie sein soll.
Wenn wir uns nun den zweiten Wortteil „Song“ – lose, lockern, aufgehen– anschauen haben wir ein etwas aktiveres Verb, das ein Raum geben andeutet. „Song“ wird auch für das Lockern eines Gürtels oder das Aufgehen von Teig verwendet. Auch dieses Aufgehen, Weitwerden, ereignet sich in einem Feld zwischen Aktivität und Passivität. In diesem Raum kann Energie wieder fließen.
So wird wahre Entspannung zu einem In-Kontakt-Treten mit Himmel und Erde, zu einem Öffnen für Neues, Frisches und wir können sie im Liegen, im Sitzen, im Stehen, im Gehen und in Bewegung erfahren. Diese tiefe Entspannung bezieht alle unsere Anteile mit ein und wir können sie nie wirklich festhalten, nie nur durch bewusstes Tun erreichen. Sie wird immer zwischen den Polen von Aktivität (Yang) und Passivität (Yin) schwingen und ereignet sich am ehesten durch ein sich ein-lassen auf „weiwuwei“ – Handeln durch Nicht-Handeln.
Im Chinesischen „Sprechen-Denken“ (F. Jullien) ist durch das Jahrtausende alte Bewusstsein für die strömende Polarität von Yin und Yang, die immer schon den Keim des anderen enthalten, dieses Gespür für „sowohl – als auch“ tief verankert und das „Dazwischen“ der wahre Keim für Kreativität und das Fließen von Qi.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen immer wieder die tiefe Erfahrung von wahrer Entspannung
und ein gesundes und friedliches Neues Jahr!
Suchen Sie die Entspannung hinter der Entspannung hinter der Entspannung und dann entspannen Sie noch einmal wirklich!
Meister Li Zhi-Chang